Resonanzachsen der Dankbarkeit

Resonanzachsen der Dankbarkeit

Systemische Perspektiven auf Führung und Organisation

© istock_Vadym Pastukh

Das Erntedankfest hat mich inspiriert über Dankbarkeit nachzudenken. Nach einer theologischen und homiletischen Reflexion habe ich das Thema auf das Feld der Führung sozialer Organisationen übertragen. Das Ergebnis ist ein kleines Essay, das ich hier veröffentliche.

Dankbarkeit ist mehr als ein Gefühl – sie ist eine Haltung, die Orientierung stiftet, Vertrauen ermöglicht und Organisationen widerstandsfähiger macht. Im Spannungsfeld von Beschleunigung, Konkurrenz und knappen Ressourcen zeigt der Essay, wie dieses oft unterschätzte Konzept aus einer systemischen Perspektive zum Schlüssel für gelingende Führung und nachhaltiges Sozialmanagement wird. Entlang der drei Resonanzachsen – Mitmenschlichkeit, Naturverbundenheit und Sinnorientierung – entfalte ich Dankbarkeit als stille Provokation gegen soziale Kälte, ökologische Rücksichtslosigkeit und Sinnleere.


Dankbarkeit klingt für viele wie ein altmodisches Wort. Es scheint nicht recht in unsere Gegenwart zu passen, die geprägt ist von Beschleunigung, Konkurrenz und einer Ökonomie der ständigen Optimierung. Und doch eröffnet gerade dieses scheinbar altmodische Konzept einen Resonanzraum, der für das Feld des Sozialmanagements höchst relevant ist. Und zwar dann, wenn Dankbarkeit als Haltung verstanden wird, die nicht in Gefühlen verharrt, sondern Beziehungen, Verantwortung und Sinn ins Zentrum rückt. Diese Haltung kann im Licht der Resonanztheorie von Hartmut Rosa und der systemischen Organisations- und Führungstheorie von Fritz B. Simon als Ressource verstanden werden, die es dem Sozialmanagement erlaubt, Orientierung zu gewinnen, Vertrauen zu stiften und soziale Risse in Organisationen und der Gesellschaft zu bearbeiten.

Systemisch betrachtet ist Dankbarkeit ein relationales Muster. Fritz B. Simon beschreibt die Organisation als Netzwerk von Kommunikation, das Sinn erzeugt und Orientierung ermöglicht. Innerhalb solcher Kommunikationssysteme ist Dankbarkeit eine Form der Anerkennung, die auf Anschlussfähigkeit zielt. Sie verändert die Dynamik zwischen den Beteiligten, indem sie Vertrauen aufbaut, Misstrauen abbaut und Kooperation erleichtert. Gerade in sozialen Organisationen, die mit hoher Komplexität, widersprüchlichen Erwartungen und knappen Ressourcen umgehen müssen, wirkt Dankbarkeit wie ein verbindendes Element, das Handlungsfähigkeit zurückgewinnen lässt. Sie ist damit keine moralische Zutat, sondern ein systemischer Mechanismus, der Kommunikation transformieren und Selbstorganisation begünstigen kann.

Dankbarkeit kann als resonante Haltung auf organisationaler und individueller Ebene rekonstruiert werden. Die Resonanztheorie von Hartmut Rosa hilft, diesen Zusammenhang genauer zu fassen. Rosa beschreibt Resonanz als eine gelingende Weltbeziehung, die sich durch Antwortfähigkeit, Selbstwirksamkeit und Transformation auszeichnet. Resonanz geschieht, wenn Menschen sich angesprochen fühlen und antworten, wenn sie in ihrem Handeln Wirkung erfahren und wenn sie durch diese Erfahrung verwandelt werden. Und Resonanz meint schon sprachgeschichtlich ein durchaus kritisches Antworten, eine sich widersetzende Bewegung und eine verstörende Berührung (Rosa, 369). Resonanz ist damit das Gegenteil von Entfremdung, jenem Zustand, in dem die Welt nur noch als Objekt zur Verfügung steht. Dankbarkeit ist in diesem Sinne eine resonante Haltung, die Menschen für andere, für das Geschenk der Natur und für die Erfahrung von Sinn öffnet und dazu in Beziehung setzt.

Diese drei Richtungen der Dankbarkeit (Mitmenschlichkeit, Naturverbundenheit, Transzendenzbezug) lassen sich mit Rosas Theorie besonders gut als Resonanzachsen bezeichnen. Die Resonanzachsen beschreiben die grundlegenden Dimensionen der Weltbeziehung. Sie stellen eine tragende Verbindung bzw. eine fundamentale Bezugslinie dar, auf der Menschen ihre Beziehungen zur Welt aufbauen können. Im Unterschied zu den Resonanzachsen bilden die Resonanzsphären die differenzierten Felder ab, in denen Menschen leben und in Beziehung zur Welt treten.

Auf der horizontalen Achse begegnen sich Menschen in ihrer sozialen Bezogenheit (Interpersonalität). Dankbarkeit durchbricht hier Abwärtsspiralen von Neid, Misstrauen und Konkurrenz und ermöglicht ein Miteinander, das auf Vertrauen und Gegenseitigkeit gründet. Sozialmanagement, das diese Dimension ernst nimmt, richtet den Blick nicht allein auf die Erfüllung von Leistungskennzahlen, sondern auf die Qualität von Beziehungen – sei es zwischen Fachkräften, Führungskräften und Klientinnen, innerhalb von Teams oder im Kontakt mit gesellschaftlichen Partnern.

Die diagonale Achse verweist auf das Verhältnis zur Natur (materielle und natürliche Umwelt). In einer Welt, die ökologisch aus dem Gleichgewicht geraten ist, wird deutlich, dass es nicht genügt, Soziale Arbeit von ökologischen Fragen zu trennen. Dankbarkeit gegenüber der Natur heißt, sie nicht als endlose Ressource zu betrachten, sondern als Leihgabe, die zur Verfügung gestellt ist. Aus dieser Haltung erwächst ein anderes Verständnis von Nachhaltigkeit: nicht als Verzicht, sondern als Ausdruck von Respekt und Verantwortlichkeit. Sozialmanagement, das diese Perspektive aufnimmt, erkennt, dass die sozialen Organisationen in größere ökologische Zusammenhänge eingebettet sind und dass ökologisches Handeln zugleich eine soziale Frage ist, etwa wenn es um die Lebensbedingungen künftiger Generationen oder um die Verletzlichkeit prekärer Bevölkerungsgruppen in Zeiten der Klimakrise geht.

Die vertikale Achse schließlich eröffnet die Dimension von Sinn (Transzendenzbezug). Auch wenn nicht alle Menschen diese Frage religiös beantworten, bleibt sie bedeutsam, weil sie die Ebene von Werten und Legitimation berührt. Organisationen im sozialen Feld brauchen eine solche Orientierung, um sich nicht in reiner Zweckrationalität oder in betriebswirtschaftlicher Logik zu verlieren. Dankbarkeit als vertikale Haltung erinnert daran, dass es in der Sozialen Arbeit um mehr geht als um effiziente Dienstleistung, nämlich um eine Werteorientierung, die Menschlichkeit, Würde und Solidarität umfasst. Die wertvollen Orientierungen eröffnen Gespräche über die kulturellen und ethischen Grundlagen, auf die sich Organisationen berufen, und schaffen so einen Raum, in dem Sinnzusammenhänge als „vertikale[…] Tiefenresonanz“ (Rosa, 443) erfahrbar werden.

Fritz B. Simon hat betont, dass Führung in Organisationen darin besteht, Sinnangebote zu machen und Orientierung in komplexen Umwelten zu ermöglichen. Dankbarkeit kann in diesem Verständnis als eine Führungsintervention wirken. Sie irritiert Kommunikationsmuster, die von Zynismus, Misstrauen oder funktionalistischer Kälte geprägt sind, und eröffnet neue Anschlussmöglichkeiten. Eine Führungskraft, die Dankbarkeit praktiziert, schafft Räume der Anerkennung, die Motivation und Bindung fördern. Sie ermöglicht Mitarbeitenden, sich als gesehen und wertgeschätzt zu erleben, und stärkt dadurch deren Fähigkeit zur Selbstorganisation. Dankbarkeit ist hier nicht als romantische Geste zu verstehen, sondern als bewusste Haltung, um Vertrauen zu ermöglichen und Organisationen widerstandsfähiger zu machen.

Damit lässt sich das Koordinatensystem der Dankbarkeit (menschlich, ökologisch, sinnstiftend) als Reflexionsfolie für das Sozialmanagement nutzen. Auf der horizontalen Ebene geht es darum, Beziehungen resonant zu gestalten und soziale Verbundenheit zu stärken. Auf der diagonalen Ebene tritt die ökologische Verantwortung hervor, die jede soziale Organisation mitträgt. Auf der vertikalen Ebene schließlich zeigt sich die Notwendigkeit, Werte und Sinnfragen ernst zu nehmen und sie nicht als Randthemen zu behandeln. Zusammen bilden diese Achsen im Resonanzraum der sozialen Organisation eine kleine Ordnung der Bezüge, die es erforderlich machen, dass sich das Sozialmanagement inmitten gesellschaftlicher Spannungen und institutioneller Unsicherheiten positioniert und politischen Widerstand leistet.

Dankbarkeit widerspricht der sozialen Kälte, die Bedürftige zu Störfällen erklärt, sie widerspricht der ökologischen Rücksichtslosigkeit einer Gewinnmaximierungslogik, und sie widerspricht der Sinnleere, die entsteht, wenn Institutionen nur noch nach ökonomischen Kennziffern funktionieren. Dankbarkeit ist kein lauter, kämpferischer Widerstand, sondern ein leiser und beharrlicher. Sie ist eine stille Provokation, die gerade durch ihre Einfachheit – durch Gesten der Anerkennung, durch geteilte Verantwortung, durch ein Bewusstsein für das, was gegeben ist – eine transformative Kraft entfaltet.

Am Ende zeigt sich: Dankbarkeit ist eine individuelle Tugend und organisationale Norm, die Resonanz ermöglicht, Entfremdung unterbricht und Organisationen inmitten von Komplexität orientiert. Sie verbindet die soziale, die ökologische und die existentielle Dimension menschlichen Daseins, und darin liegt ihr widerständiges Potenzial für soziale Organisationen und die Gesellschaft.

 

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