Ehrenamt und inklusive Bürgergesellschaft

Ehrenamt und inklusive Bürgergesellschaft

Festrede zum internationalen Tag des Ehrenamtes

Grafik: International Volunteer Day
© iStock.com/Artrise

Am 09. Dezember 2022 wurde in Bad Arolsen der Tag des Ehrenamtes begangen. Ich durfte die Festrede halten, die ich unter die Überschrift "Ehrenamt und inklusive Bürgergesellschaft" gestellt habe.

 


I.

Die Begriffe „Ehre“ und „Amt“ verweisen auf eine Zeit, in der es um die Übernahme öffentlicher Ämter ging – um der Ehre willen. Ein solches Amt verleiht der Trägerin Ansehen und der Amtsträger hat Gestaltungsmöglichkeiten. Diese Ämter gibt es noch immer: Ich denke zum Beispiel das Amt des Ersten Stadtrates oder das Amt der Vorsteherin der Stadtverordnetenversammlung oder an Leitungsämter in der Freiwilligen Feuerwehr. Sogar die Kirche kennt den:die Pfarrer:in im Ehrenamt. Doch der freiwillige und unentgeltliche Einsatz von Menschen geht weit über das hinaus, was mit einem Amt verbunden wird. Gemeint ist das vielfältige Engagement in Sportvereinen, für die Kultur, in der Kirchengemeinde oder für Menschen in Not. Deshalb wird immer häufiger statt vom Ehrenamt von bürgerschaftlichem Engagement oder Freiwilligen-Arbeit gesprochen. Diese Aktivitäten geschehen selten im Licht der Öffentlichkeit, vielmehr in den alltäglichen Vollzügen. Um dieses Engagement und die dahinterstehenden Menschen wahrzunehmen und ihnen Ansehen zu verleihen, wurde bereits 1985 von den Vereinten Nationen der International Volunteer Day ins Leben gerufen. An jedem 5. Dezember ist der internationale Tag der Freiwilligen, damit ihr Engagement sichtbar wird.

II.

Das Charakteristische des bürgerschaftlichen Engagements ist das Zusammenspiel von Freiwilligkeit und Verpflichtung. Zwei Begriffe, die scheinbar gar nicht zusammenpassen: Was ist eine freiwillige Verpflichtung? Wolfgang Huber, der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, schreibt: Das bürgerschaftliche Engagement hat ein „überschießendes Element der Freiheit, das sich in einer bewusst übernommenen Verantwortung Ausdruck verleiht.“ Es handelt sich also nicht um eine staatsbürgerliche Pflicht und Verpflichtung, sondern um einen Einsatz und eine Anstrengung jenseits von Staat, Beruf und Familie. Ein solches Verständnis von Freiheit ist nicht individualistisch. Es setzt die Freiheit des Einzelnen nicht absolut. Vielmehr kommt hier ein Freiheitsbegriff zum Vorschein, der die Freiheit als ein Geschenk betrachtet. Dieses Geschenk besteht darin, dass es frei macht von Bindungen und zugleich frei macht für die Übernahme von Verantwortung. So paradox es auch klingen mag: Die Wahrnehmung von Verantwortung wird als Freiheit erlebt. Freiheit und Verantwortung sind zwei Seiten einer Medaille. Im bürgerschaftlichen Engagement, im Ehrenamt, zeigt sich diese gebundene Freiheit: Sie ist nicht gleichgültig mit Blick auf den Anderen. Sie interessiert sich für den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.

III.

Die Versuchung ist immer wieder groß, das freiwillige Engagement zur Entlastung des Staates zu benutzen. Der Staat kann angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen nicht alle Aufgaben wahrnehmen. Schon heute explodieren die Sozialetats unserer Republik. Der Rückzug des Staates aus wichtigen Aufgaben des gesellschaftlichen Lebens darf aber nicht bedeuten, dass hierfür immer eine Lösung im Ehrenamt gesehen und gesucht wird. Mit einer solchen politischen Strategie würde das Ehrenamt Gefahr laufen, für die politischen Interessen instrumentalisiert zu werden. Vielmehr sind alle Bürgerinnen und Bürger herausgefordert, einen Diskurs darüber zu führen, was der Staat leisten soll und was nicht. Nicht in allen Handlungsfeldern ist der Staat gut. So manches können die Bürgerinnen und Bürger selbst besser machen. Und schon gar nicht muss der Staat alles finanzieren. Aber – und das steht auf der anderen Seite der Medaille: Ehrenamtliche sind keine Lückenbüßer und schon gar kein Sparmodell für staatliche Aufgaben. Ich möchte Ihnen das gern am Beispiel der Behindertenhilfe erläutern.

Bürgerschaftliches Engagement im Rahmen der Behindertenhilfe könnte ja bedeuten, dass durch den Einsatz von Ehrenamtlichen die Betreuungsleistungen der hauptberuflichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zurückgefahren werden können. Damit könnte der Landeswohlfahrtsverband Kosten sparen, was sich wiederum auf die Verbandsumlage auswirken würde. Eine verlockende Idee angesichts knapper Haushalte?

Ein solches Modell entspräche ganz der Logik der Instrumentalisierung des bürgerschaftlichen Engagements. Wenn wir den Einsatz von Bürgerinnen und Bürgern für Menschen mit Behinderung aber nicht unter dem Verdikt des Sparens verstehen, dann bietet das freiwillige Engagement einen enormen Mehrwert. Der Wert besteht darin, dass Bürger Bürgern begegnen. Das klingt zunächst banal, ist es aber nicht. Bereits die verwendete Ausdrucksweise macht deutlich, dass es nicht mehr um Menschen mit oder ohne Behinderung geht, sondern ganz selbstverständlich um Bürger:innen. Eine solche Begegnung beruht in der Regel auf gemeinsamen Interessen, z.B. an Sport, an Musik, an Film oder Theater. Sie ermöglicht dem Menschen mit Behinderung eine normale Beziehung. Mit der Bürgerin, die sich ehrenamtlich einbringt, zieht ein Stück Normalität in eine Sonderwelt ein, die ansonsten von Professionalität geprägt ist. Das tut den Betroffenen gut, denn es ermöglicht, dass sie anders wahrgenommen werden und sich anders verhalten können. So ist bürgerschaftliches Engagement ein Beitrag zu einer inklusiven Gesellschaft.

Das Thema Inklusion ist in der Öffentlichkeit präsent, seit die Behindertenrechtskonvention in Deutschland 2009 ratifiziert wurde. Inklusion beschreibt eine Gesellschaft, in der jeder ungehindert dazugehört. Dieses Gesellschaftsbild beruht auf der Vorstellung: Jeder Mensch hat ein Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, an einer unabhängigen Lebensführung, an Arbeit und Bildung – und zwar unabhängig von seiner Herkunft, seiner Behinderung oder seines Geschlechts. Jeder gehört dazu - so, wie er ist.

Jürgen Habermas hat das schon vor Jahren die „Einbeziehung des Anderen“ genannt. Inklusion setzt voraus: Der Andere mit seinem Andersein ist ein akzeptierter Teil der Gemeinschaft. Das ist mehr als Integration. Während die Integration davon ausgeht, dass sich der Andere an die Mehrheitsgesellschaft anpasst und einfügt, meint Inklusion: der Andere ist schon immer Teil der Gesellschaft. Sie merken, Inklusion fängt im Kopf an, in unseren Köpfen, die wir bereit sein müssen, das Gewohnte anders zu denken. Nicht der Ausgegrenzte passt sich an, sondern die Gesellschaft verändert ihre Einstellung und Haltung. Nur dann kann der Andere mit seinem Anderssein ein gleichberechtigter Teil der Gemeinschaft sein.

Das gelingt nur durch unzählige Kontakte und Begegnungen auf Augenhöhe. Nur wenn „normale“, d.h. alltägliche Beziehungen wachsen, kann die notwendige Veränderung Schritt für Schritt gelingen. Ich denke an Ehrenamtliche, die im Bathildisheim mit Kindern und Jugendlichen Fußball spielen oder Fahrräder reparieren, ein Insektenhotel bauen oder den Verkaufsstand der Werkstatt auf dem Weihnachtsmarkt betreiben. Sie bringen ihr Können ein; vor allem aber bringen sie sich als Person ein. So werden sie anderen Menschen ein Gegenüber; sie gehen in Beziehung.

IV.

Indem was ich geschildert habe, schimmert die Vision einer Gesellschaft durch, in der sich Bürgerinnen und Bürger nicht nur gelegentlich einmischen, sondern sich verpflichten, ja binden, d.h. verbindlich mitwirken an der Gestaltung der Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die für alle offen ist, ja eine inklusive Gesellschaft. Darin steckt die liberale Idee, dass der Bürger/die Bürgerin ein freier und gleicher Teil des Gemeinwesens ist. Gleichheit meint in diesem Zusammenhang: alle Bürger:innen genießen die gleichen Rechte. Deshalb gibt es sehr wohl ungleiche Lebensumstände. Die Ungleichheit wird dann zum Problem, wenn Einzelnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, an Arbeit und Kultur unmöglich gemacht wird.

In meinem Verständnis von dieser inklusiven Gesellschaft geht es zunächst um den Bürger, der sich unabhängig vom Staat freiwillig engagiert und der sich zur Zielerreichung mit anderen zusammenschließt. Erst dann kommen die Staatsbürgerin und der Staat in den Blick. Damit ist keineswegs einem schlanken Staat das Wort geredet, der sich selbst aus der Verantwortung zieht. Es geht vielmehr um die Ermöglichung eines Diskurses, der die inklusive Bürgergesellschaft herausfordert.

Nun ist das mit Visionen so eine Sache. Helmut Schmidt hat einmal gesagt, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Lohnt es, überhaupt so grundsätzlich nachzudenken? Verstellt das Visionäre nicht sogar den Blick für die Realitäten? Ich will dem entgegensetzen: Wer in der Woche des heiligen Nikolaus über Engagement nachdenkt, der wird auf einen Visionär gewiesen. Und eine Vision, also ein Bild von der Zukunft, ist unerlässlich, um nicht in den Zwängen des Alltäglichen zu verharren. Nikolaus ist für mich noch heute ein Vorbild für den kreativen, mutigen und verwegenen Einsatz für die Gemeinschaft und für Einzelne. Auch Sie, die Sie sich engagieren für das Gemeinwesen: für Kinder, Migranten, Menschen in Not, für Bildung und Sport, sind solche Vorbilder für eine inklusive Bürgergesellschaft. Sie geben dieser Vision ein Gesicht! Ihnen gehört nicht nur heute mein und unser aller Dank – er gebührt Ihnen tagtäglich.

 

Zurück