Die Heiligtümer der Führung
Eine Kolumne
Was bedeutet Führung im Zeitalter von Agilität, KPIs und Change-Prozessen? Inmitten moderner Leadership-Trends und durchgetakteter Business-Events wirft dieser Beitrag einen überraschenden Blick auf die spirituelle Dimension von Führung. Inspiriert von Paulus auf dem Areopag stellt er die drängende Frage: Welche „Heiligtümer“ bestimmen unser Denken über Macht, Erfolg und Menschlichkeit? Eine provokante Reflexion über New Leadership, christliche Werte und die stille Kraft des Glaubens – jenseits von Tools, Charts und Buzzwords.
Ein Kongresshotel in Berlin-Mitte – was könnte sinnbildlicher sein für eine Tagung zum New Leadership? Glasfassade, Namensschild, Coffee-to-go – alles durchgetaktet. Der schnelle Austausch von Ideen, der ständige Strom von Informationen, das Bestreben, möglichst effizient zu sein. Man kann es fast hören – das Rauschen der Worte, die darauf ausgelegt sind, das Gefühl von Veränderung zu erzeugen.
Inmitten dieses Szenarios, so stelle ich mir vor, taucht jemand auf, der eigentlich nicht hierher passt. Paulus. Ja, der Paulus. Nicht eingeladen, nicht auf dem Panel, einfach da. Wahrscheinlich würde er sich hier fehl am Platz fühlen. Seine Bühne ist eine andere: der Areopag. Athen. Marmorstufen. Eine Luft, durch die große Gedanken schweben. Er mittendrin. Kein Headset, keine Folien, keine vorbereitete Dramaturgie. Nur ein Mann, der hinsieht. Der sich traut, wirklich wahrzunehmen. „Ich sehe, dass ihr sehr religiös seid“, sagt er. So spricht jemand, der verstehen will, bevor er verstanden werden möchte.
Paulus redet nicht über Management. Er redet über Christus. Gekreuzigt und auferstanden. Nicht gerade ein Verkaufsargument auf einem Leadership-Kongress. Sondern eine Zumutung, die es in sich hat. Eine Art Schocktherapie für den Seelenhaushalt. Sie stellt alles in Frage, was wir über Macht, Erfolg und Wirkung zu wissen glauben.
Denn natürlich haben auch wir unsere Altäre. Sie heißen heute nicht mehr „Zeus“ oder „Athene“, sondern „Effizienz“ und „Wirkungsorientierung“. Es wird gebetet – pardon: präsentiert, gemessen, verglichen. Manchmal fühlt sich das an wie ein Markt der modernen Götter. Der eine predigt Skalierung, die andere bekennt sich zum KVP. Und irgendwo murmelt jemand von KPIs, als wären es Psalmen.
So weit weg ist das alles gar nicht vom Areopag. Damals knirschte der Stein unter den Sandalen. Heute quietscht die Flipchart. Paulus hatte nichts dabei außer Mut und Klarheit. Vielleicht ist genau das wieder gefragt.
Denn ehrlich: Wenn ich durch Meetings gehe, sehe ich sie – unsere „Heiligtümer des Todes“. Den Elderstab der Unfehlbarkeit – besser bekannt als autoritärer Führungsstil mit freundlicher Oberfläche. Den Tarnumhang der perfekten Rhetorik – empathisch, aber maximal unverbindlich. Und natürlich den Stein der Auferstehung – wenn in der Change-Routine alte Ideen als neue verkauft werden.
Wer all das beherrscht, wird zum „Meister des Todes“. Keine Zauberei – nur das Verschwinden von Menschlichkeit. Gespräche werden zu Interventionen, Menschen zu Ressourcen. Und Empathie? Ein Tool. Noch ein Tool.
Auch im „New Leadership“ weht oft ein alter Wind. Agile Methoden, flache Hierarchien – und doch bleibt vieles beim Alten, nur besser verpackt. Kontrolle trägt das Gewand von Freiheit. Optimierung tarnt sich als Empowerment. Der Geist hat sich kaum verändert – nur der Jargon.
Wenn christliche Führung anders sein will, reicht kein Update. Dann braucht es den Abschied von alten Heiligtümern: vom Thron der Unantastbarkeit, vom Altar der Effizienzvergötterung, vom Tempel des professionellen Egos.
Denn der Glaube kennt andere Namen für das, was wirklich trägt: Barmherzigkeit. Vertrauen. Gerechtigkeit. Begriffe, die in keinem Controlling-Dashboard auftauchen – und trotzdem alles verändern können.
Ich habe gelernt: Ein heiliger Raum entsteht nicht durch die perfekte Methode. Sondern durch eine Haltung. Wenn jemand den Mut hat zu sagen: „Ich weiß es nicht.“ Und dadurch nicht kleiner wird – sondern menschlich. Wenn nicht sofort überzeugt wird, sondern zugehört. Wenn eine Frage im Raum steht, die tiefer geht als jede Effizienzanalyse: „Wem dient unser Handeln?“ – nicht nur: „Was bringt es uns?“
Wer an den Auferstandenen glaubt, führt mit den Füßen im Staub. Nicht mit dem Anspruch der Allwissenheit. Mit der Bereitschaft zum Hören. Nicht unangreifbar.
Viele Methoden des New Leadership tragen Potenzial für eine andere Führung in sich – etwa dialogorientierte Feedbackformate oder partizipative Entscheidungsprozesse. Doch nur wenn sie aus Menschlichkeit erwachsen – nicht als Selbstzweck –, entfalten sie Kraft. Es ist nicht die Methode, die entscheidet – sondern der Geist, in dem sie angewendet wird.
Vielleicht liegt genau hier die stille Herausforderung: Inmitten moderner Führungsvokabeln die Heiligtümer des Glaubens nicht zu vergessen. Vielleicht habe ich dann beim nächsten Meeting, wenn wieder KPIs vergöttert werden, den Mut, barfuß auf dem Areopag unserer Zeit zu stehen – und zu sagen, was wirklich zählt: „In Christus leben, weben und sind wir.“