Führung zum Leben – Die leise Kraft des guten Hirten
Eine spirituelle Annäherung an das Wesen wahrer Führung
Was ist wahre / wahrhaftige Führung? Inspiriert vom Bild des guten Hirten (Joh. 10,1-16) zeigt dieses Essay, wie Führung neu gedacht werden kann - lebensnah, beziehungsstark und verwurzelt in einem Menschenbild, das Würde nicht an Leistung knüpft. Eine Einladung zur Umkehr – und zur Verantwortung. In einer Welt, die Effizienz belohnt und Lautstärke mit Führungsstärke verwechselt, ist stille Nähe kaum noch als Kompetenz gefragt. Wahre und wahrhaftige Führungsarbeit leisten Menschen, die nicht herrschen, sondern bleiben. Die nicht glänzen, sondern tragen.
Wenn man „Führung“ hört, denkt man an große Räume mit langen Tischen. An Menschen, die in Glasbüros Entscheidungen treffen, die ganze Länder oder Konzerne bewegen. Führung klingt nach Kontrolle, nach Macht, nach Ansagen, die keine Rückfragen dulden. Vielleicht ist das so. Und trotzdem ist das Entscheidende vielleicht nicht lautstarke Ansage, sondern die Nähe. Nicht der Plan – sondern das, was passiert, wenn kein Plan mehr hilft.
Wahre Führung beginnt früher. Und leiser. In Momenten, die kein Protokoll kennt. In Gesprächen ohne Ergebnis. In Blicken, die nicht wegsehen, wenn etwas aus dem Ruder läuft. Sie beginnt in Wohnzimmern. Auf Schulfluren. In Werkstätten, wo Holzspäne unter den Füßen knirschen. Dort, wo Menschen etwas für andere tun – ohne es zu müssen.
Führung hat viele Gesichter. Sie geschieht dort, wo jemand Halt gibt. Wo nicht Status zählt, sondern Orientierung. Nicht die Funktion, sondern die Person. Es sind selten die Lauten, die führen – sondern die Treuen. Die, die bleiben. Die, die nicht wegsehen, wenn es unbequem wird. Diese Form der Führung – leise, lebensnah, menschenfreundlich – hat es schwer in einer Welt, die alles messen, bewerten, optimieren will. Auch Menschen. Wer nicht liefert, fällt zurück. Wer ausfällt, verschwindet. Führung wird zur Kennzahl, zum Stilmittel, zum Managementinstrument.
Gerade in der Politik ist dieser Wandel sichtbar. Führung wird oft mit Kontrolle verwechselt, Lautstärke mit Klarheit, Meinung mit Wahrheit. Rechtsextremistische Parteien und andere Populisten nutzen diese Verunsicherung. Sie versprechen einfache Antworten und bieten billige Orientierung an – mit markigen Worten und schnellen Schuldzuweisungen. Mit dem trügerischen Versprechen, endlich wieder zu wissen, wer „wir“ sind. Und wer nicht dazugehört. Ihre Führung spaltet – sie dient nicht dem Leben, sondern dem Kalkül. Sie sprechen von „denen da oben“ und fragen nicht: „Was brauchst du?“ Sondern: „Wen können wir an den Pranger stellen?“ Und plötzlich wird Führung zum Spiel mit der Wut. Zum Werkzeug, um Menschen gegeneinander zu stellen.
Dem steht ein anderes Bild gegenüber. Eines, das alt ist – und aktuell. Sperrig – und zugleich tröstlich: der gute Hirte. Kein Bild, das sofort funktioniert. Zu alt, zu pastoral, zu weit weg vom Alltag. Und trotzdem hat es etwas. Weil dieser Hirte eben kein Chef ist. Kein CEO eines Welt-Konzern oder Präsident. Kein „Ich-weiß-es-besser“ Mann. Sondern einer, der sieht, was verloren geht. Der nicht drängt. Der nicht aufrechnet. Einer, der ruft – und bleibt. Der gute Hirte kann laut rufen und ist doch kein Lautsprecher. Er gibt sich ganz in seine Aufgabe als Hirte und ist doch kein Leistungsträger im herkömmlichen Sinne. Seine Führung ist Beziehung. Er verzichtet auf Dominanz und wendet sich den Seinen zu. Sein Ruf ist leise und liebevoll: ein Ruf zum Leben.
Wie konkret diese Haltung ist, zeigt sich in kleinen Szenen, die leicht übersehen werden – und doch alles sagen.
Abends, in der geriatrischen Station von Arolsen. Gedämpftes Licht, stille Gänge. Eine Ärztin sitzt am Bett einer alten Frau, die vergessen hat, wie die Welt funktioniert. Keine Worte. Nur Berührung. Die Hand in der Hand. Ein Lächeln, das sich langsam über das Gesicht der Frau legt – als fiele ihr ein vertrauter Name wieder ein. – Das ist kein medizinischer Durchbruch. Ein Moment von Würde ist es allemal.
„Ich bin der gute Hirte“, sagt Jesus. Seine Stimme ist liebevoll. Sie sagt: Ich bin da – für dich.
In Volkmarsen, in einem Schulhaus mit abgenutzten Treppen, müden Farben und Tischen voller Kritzeleien, steht ein Lehrer am Eingang. Er sieht einen Schüler, der nur noch selten kommt. Müde Augen hat er und eine leere Mappe. Die Statistik sagt: Verloren. Der Lehrer sagt: Du gehörst hierher. Ein Jahr später steht der Junge bei der Zeugnisvergabe. Kein Ende wie im Film. Aber ein Anfang.
In einer Welt, die auf Effizienz setzt, wirkt das Bild des Hirten fast subversiv. Er lässt die neunundneunzig zurück, um das eine zu suchen, das verloren ging. Kein Unternehmen würde so handeln. Kein Parteistratege. Kein Algorithmus. Der Hirte rechnet anders.
In Korbach, in einer Tischlerei, arbeitet ein 41-jähriger Mann an der Werkbank. Seit Jahren. Jetzt ist auch seine Familie aus Syrien hier: die Frau, drei Kinder. Der Chef hat geholfen – mit Formularen, Kontakten, Geduld. Warum? „Ich mag die Menschen“, sagt er. Mehr nicht. Und doch ist alles gesagt.
Die Stimme des guten Hirten durchdringt jedes Korsett aus Regeln. Seine Stimme ruft beim Namen – ohne zu vereinnahmen. Sie schenkt Orientierung, aber zieht nicht an Fäden. Sie richtet auf – ohne sich zu erhöhen. Es ist eine andere Art zu führen: leise und klar.
Diese Führung will nicht glänzen. Sie beginnt im Zuhören. Im Aushalten. Im Verzicht auf schnelle Lösungen. Sie ist still – und stark. Eine Kraft, die trägt. Und heilt.
Doch der gute Hirte ist mehr als ein ethisches Ideal. Jesus sagt nicht: Ich führe wie ein Hirte. Er sagt: Ich bin der gute Hirte. Seine Führung weist über das Menschliche hinaus – zur Quelle des Lebens. Dorthin, wo Würde nicht verdient werden muss, sondern zugesprochen wird. Bedingungslos. Wo Menschen aufatmen dürfen – ohne sich zu beweisen. Diese göttliche Führung ist kein moralischer Appell. Kein Fernsteuerungsprogramm. Sie zwingt nicht – sie lädt ein. Sie befiehlt nicht – sie ruft beim Namen. Sie gibt Orientierung – aber sie nimmt niemandem den Weg ab. Wer ihr folgt, wird nicht kleiner. Sondern findet sich neu: frei und selbstbestimmt im Licht Gottes.
Und Gott gibt Kraft. Die Kraft, eine andere Art der Lebensführung zu wagen. Kraft für eine Lebensführung, die sich nicht um sich selbst dreht. Eine, die fragt: Was dient dem Leben? Eine, die Beziehung höher bewertet als Bilanzzahlen. Und Menschen mehr als Maßstäbe.
Die Stimme des guten Hirten ist ein Gegenentwurf. Und ein Ruf. Ein Auftrag: Hirten zu werden – im Alltag, in Beziehungen, in Verantwortung. Nicht als Helden. Sondern als Menschen, die bleiben. Die nicht fliehen, wenn es schwierig wird. Die nicht schweigen, wenn andere missachtet werden. Die aus der Kraft des Evangeliums leben und ihrem Hirten zur Quelle des Lebens folgen.