Im Schwellenlicht des Advents
Zum ersten Advent habe ich mich mit dem Kunstmärchen "Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern" (1845) von Hans Christian Andersen auseinandergesetzt. Ich denke über die Ambivalenz nach, die das Märchen prägt: der kalte Skandal und die wärmende Hoffnung.
Als die Menschen am Morgen das Mädchen finden, liegt es da, als sei es eingeschlafen. Niemand weiß von den Bildern, die sie in der Nacht vor ihrem inneren Auge gesehen hatte. Niemand konnte erahnen, welche Wärme sie noch einmal gespürt hatte. Die Welt um sie herum hielt für einen kurzen Augenblick inne und dann füllten sich die Straßen wieder mit Stimmen und Lachen, dem geschäftigen Treiben des Morgen.
Vielleicht beginnt an diesem Punkt unser Teil der Geschichte; dort, wo das Märchen endet und das Hinschauen uns überlassen bleibt. Es ist schwer, die Gestalt des Mädchens loszuwerden. Schwer, weil sie uns mit einer Dunkelheit konfrontiert, die wir im Alltag meiden. Und schwer, weil sie uns an etwas erinnert, das wir eigentlich wissen: dass ein Leben schnell übersehen werden kann, dass Verletzlichkeit leise ist.
Auch in diesem Advent, in dem die Lichter glänzen und der Glühwein auf den Weihnachtsmärkten schmeckt, sterben Kinder: An Unterernährung. An Seuchen. An schweren Krankheiten. Auf der Flucht. Im Krieg. Im Kontrast zu dieser Dunkelheit ist die Advents- und Weihnachtszeit „zu bunt und heiter“, wie Jochen Klepper dichtete. Wie dunkel diese Zeit des Lichts sein kann, wusste er nur zu genau. 1942 nahm er sich gemeinsam mit seiner jüdischen Frau und deren Tochter das Leben, kurz bevor die Deportation drohte. „Gott will im Dunkel wohnen“ heißt es in seinem bekannten Adventslied „Die Nacht ist vorgedrungen“. Ja, das Licht des Tages, an dem Gott alle Tränen abwischen wird, ist schon angebrochen. Und dennoch wird manche Nacht „fallen auf Menschenleid und -schuld“. Gleichzeitig bescheint „Der Morgenstern … Angst und Pein“.
Diese Widersprüche haben mich immer wieder verstört und gestärkt. Sie widersetzen sich dem Wunsch, die Dunkelheit möge einfach vergehen. Jochen Klepper behauptet nicht, die Angst und das Leid würden deshalb verschwinden, weil Gott zur Welt kommt. Er verspricht keinen billigen Trost. Stattdessen zeichnet er ein Bild vom Licht, das verwandelt. Es macht das Dunkle sichtbar und zugleich wird klar: es behält nicht das letzte Wort. Diese Ambivalenz kann ich kaum aushalten, so wahr ist seine Lyrik.
Im Märchen von Hans Christian Andersen kann ich eine solche Verwandlung auch entdecken: Es ist der Moment der Ver-Klärung, in dem das Mädchen mit dem letzten Streichholz der Kälte dieser Welt entzogen wird, ohne dass diese Kälte verharmlost würde. Ihr Tod bleibt ein Skandal. Er ist das Resultat einer Welt, in der der einzelne Mensch übersehen wird. Und gleichzeitig ist da dieses Licht. Eine eigentümliche Form von Wärme und Liebe, die in der Gestalt der Großmutter aufscheint, tröstet und Hoffnung schenkt. Trotzallem. Beides ist wahr: der Skandal und die Hoffnung.
Der erste Advent ist für mich immer mehr zu einem Symbol für diese Spannung geworden. Das Warten auf Gottes Handeln ist ein Fest der Sehnsucht. Eine Sehnsucht, die mit der Geburt zu Bethlehem nicht aufhört. Der Morgenstern ist da, meine Angst und mein Leid sind aber nicht verschwunden. Wenn ich über den Advent nachdenke, sehe ich das Mädchen mit den Streichhölzern in ihren Händen, die kleinen Flammen, einen Augenblick lang, bevor sie schon wieder verlöschen. Sie eröffneten ihr dennoch eine Welt, die wärmer war als das Leben, das sie kannte. In unseren Adventskerzen will ich solche zerbrechlichen Lichter sehen, die gegen die Nacht anflackern. Nicht als bloße Behauptung, alles sei gut, sondern als Erinnerung daran, dass wir nicht aufhören dürfen, uns nach Wärme und Licht zu sehnen. Für uns. Und für die, die auch wir schnell übersehen.
Die Kerzen, die wir entzünden, retten die Welt nicht. Aber sie verhindern, dass wir uns an die soziale Kälte gewöhnen. Und das ist bereits der Anfang von Erlösung, im Schwellenlicht des Advents.