Partizipation und Organisationsgestaltung

Partizipation und Organisationsgestaltung

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Der kurze Beitrag geht der Frage nach: Welche Organisationsgestaltung ermöglicht selbstbestimmte Teilhabe? Die These lautet: Partizipative Organisationsentwicklung ist eine Voraussetzung für Teilhabe.

Der Beitrag ist zuerst in den BeB Informationen (Nr. 74, H. 2/2021, 16-17) erschienen.


 

Die UN-Behindertenrechtskonvention lenkt die fachliche und öffentliche Aufmerksamkeit bis heute auf die Bedeutung der allgemeinen Menschenrechte für Menschen mit Beeinträchtigung. Inklusion bedeutet demnach: Jeder Mensch hat das Recht, selbstbestimmt an und in allen Lebensbereichen teilzuhaben. Selbstbestimmte Teilhabe setzt voraus, dass jede:r in die Entscheidungsprozesse einbezogen ist, die das eigene Leben betreffen. Nur wenn jemand mit- oder selbstbestimmen kann, realisiert sich Teilhabe. Daraus erwächst der Auftrag für soziale personenbezogene Dienstleistungsorganisationen, Menschen zu stärken und zu befähigen, selbst über ihr Leben zu bestimmen. Die damit einhergehende Transformation von der Fürsorge- über die Integrations- zur Inklusionslogik ist fachwissenschaftlich und professionstheoretisch umfangreich reflektiert. Kaum im Fokus der Auseinandersetzung sind die Organisationen selbst, die die Orte und Rahmenbedingungen für Teilhabeleistungen darstellen.

Im Index für Partizipation (BeB 2019) heißt es dazu: „Eine partizipative Haltung ist notwendig, aber auch wenig wirkungsvoll und anstrengend, wenn sie keine Entsprechung in partizipativen Strukturen hat“ (S. 17). Insofern bindet die Fragensammlung auch die Struktur-Dimension ein (S. 65-85). Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass diese Fragen zumeist auf eine operative Ebene abstellen und annoncieren, wo und wie Beteiligung von Menschen mit Beeinträchtigung in organisationalen Entscheidungsprozessen möglich und nötig ist. Um die grundsätzliche Strukturierung von Organisationen zu prüfen, muss der bereits umfängliche Fragenkatalog erweitert werden, da die Aufbauorganisation immer auch die Kultur einer Organisation widerspiegelt und auf die Haltung und das Handeln der Menschen in der Organisation wirkt. Sofern sich ein Vertrauensgut wie die selbstbestimmte Teilhabe nicht in den Strukturen, Routinen und Prozessen konkretisiert, verwickelt sich die Organisation in Selbstwidersprüche. Entweder entkoppelt sie die Frage nach der Ordnung von den (normativen) Zielen und Erwartungen oder sie hält tradierte Ordnungssysteme für wahr und behauptet, dass z.B. eine vertikale Hierarchie als Organisations- und Führungsmodell mit selbstbestimmter Teilhabe als Organisationszweck vereinbar ist.

Bevor also auf der Prozessebene nach der Partizipation von Menschen mit Beeinträchtigung in Organisationen gefragt wird, lohnt es, einen Schritt zurückzutreten und kritisch zu reflektieren, welche Organisationskonfiguration selbstbestimmte Teilhabe ermöglicht bzw. einschränkt. Und zwar deshalb, weil die Organisation die Rahmenbedingungen für die Teilhabeleistungen darstellt. Insofern spielen die Wechselwirkungen von Struktur, Kultur und Prozessen eine gewichtige Rolle für die Realisierung von Partizipation. Mit Blick auf die Mitarbeitenden lautet die Frage: Inwieweit können Mitarbeitende die Partizipation von Menschen mit Beeinträchtigung unterstützen, fördern und aushalten, wenn sie sich selbst in einem fremdbestimmten System wahrnehmen? Und hinsichtlich der Menschen mit Beeinträchtigung ist zu fragen: Welcher Grad von Partizipation kann in welcher Organisationsstruktur realisiert werden (Mit-/Selbstbestimmung oder Mitberatung)?

Inklusion als normatives Leitbild, Rechtsanspruch und sozialpolitische Vision trägt also nicht nur das Potential in sich, professionelle Haltungen, Konzepte und Methoden zu revolutionieren, sondern auch die Hierarchien in Organisationen einer Prüfung und Neuvermessung zu unterziehen. Eine partizipative Organisationsentwicklung offenbart zunächst den Wertekonflikt zwischen Selbst- und Fremdbestimmung für alle Menschen in der Organisation (Nutzer:innen und Mitarbeiter:innen) und stört damit radikal den Status quo. Auf dieser Basis sind Strukturen, Kulturen und Prozesse zu entwickeln, die der selbstbestimmten Teilhabe bestmöglich Raum geben.

 

Literaturhinweise

Bundesverband evangelische Behindertenhilfe (2019): Mitbestimmen! Fragensammlung zur Partizipation. Index für Partizipation, Berlin.

Geyer, Christian (2021): Kollegiale Hierarchie in der Eingliederungshilfe. Das Organisationsmodell als Ermöglichungsbedingung selbstbestimmter Teilhabe. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik, 19. Jg., H. 2, 204-225.

 

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