Wozu Kollegiale Führung in Sozialunternehmen?

Wozu Kollegiale Führung in Sozialunternehmen?

Es geht um die Ermöglichung selbstbestimmter Teilhabe

© iStock.com/Fokusiert

Das Modell Kollegiale Führung ist ein Mittel zum Zweck. Es soll eine Kultur der Selbstbestimmung und Eigenverantwortung unterstützen, um dem großen Ziel der Inklusion näher zu kommen. Dazu braucht es auch in den Sozialunternehmen andere Strukturen, Abläufe und Methoden. Die bietet das Modell der Kollegialen Führung an. Es ist eine Form der gesteuerten Selbstorganisation von Bernd Oestereich und Claudia Schröder. Es beteiligt alle Mitglieder einer Organisation an den Führungsaufgaben. Insofern geht es bei der Kollegialen Führung um verteilte Führungsarbeit statt positionsorientierter, hierarchischer Führung.

 


Schon Albert Einstein wusste: „Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu belassen und zu hoffen, dass sich etwas ändert.“ Dass sich in den Sozialunternehmen, zumal in der Eingliederungshilfe, etwas ändern muss, ist spätestens deutlich geworden, als der Bundestag 2016 die Vision einer inklusiven Gesellschaft in ein modernes Teilhaberecht (BTHG) übersetzt hat. Nach einer langen Fürsorgegeschichte sind die Organisation nun herausgefordert, selbstbestimmte Teilhabe zu organisieren, die über formale Mitbestimmung hinausgeht.

Nunmehr soll es der Mensch mit Behinderung sein, der im Hinblick auf die Unterstützungsleistung in Führung geht und bestimmt, was wann wie und durch wen geleistet wird. In der Fachsprache wird das Personenzentrierung genannt. Und zugleich stellen die sozialen Dienstleistungsorganisationen weiterhin die Rahmenbedingungen für die Leistungserbringung zur Verfügung. Deshalb sind die Organisationen herausgefordert zu überprüfen, ob sie mit ihren Strukturen und Abläufen dem Willen der Nutzer:innen dienen oder eher im Wege stehen. Diese neue Logik macht deutlich, dass die Sozialunternehmen lernen müssen, anpassungsfähig zu werden. Anpassungsfähigkeit meint, auf die unterschiedlichen Erwartungen und Wünsche der Nutzer:innen maßgeschneiderte Leistungen zu kreieren, Nutzer:innen in die Entwicklung neuer Leistungen von Anfang an einzubinden und gleichzeitig die eigene normative Orientierung in diese Beziehung einzutragen. Es geht um einen prinzipientreuen Pragmatismus, der anerkennt, dass die Führungsrichtung von dem/der Nutzer:in ausgeht und nicht von oben nach unten praktiziert wird.

Zugleich machen die Mitarbeitenden der Generationen Y und Z deutlich, dass sie keine hierarchische Führung wollen, sondern mit ihren Kompetenzen in die Führungsarbeit partiell mit einsteigen. Diese Erwartung wird auch aus der Sicht von Inklusion und Teilhabe als Organisationszweck laut: Können Mitarbeitende, die sich in der Organisation als fremdbestimmt erleben, Menschen mit Behinderung bei der Ermächtigung zu einem selbstbestimmten Leben angemessen unterstützen? Oder anders gefragt: Prägen Top-down-Strukturen und Abläufe die Mitarbeitenden dergestalt, dass sie ihr professionelles Handeln eher an Fürsorge und Kontrolle als an Spielräumen der Freiheit und Selbstbestimmung ausrichten?

Eine Soziale Arbeit, der es darum geht, Teilhabe zu ermöglichen und zu fördern, braucht organisationale Rahmenbedingungen, die von einer Kultur der selbstbestimmten Teilhabe durchdrungen sind. Es ist für Organisationen, die für soziale Teilhabe stehen, eine Frage der Glaubwürdigkeit nach innen und nach außen.

Zumal für diakonische Organisation, die von dem christlichen Freiheits- und Inklusionsversprechen getragen und begeistert sind. Die Zusage Gottes, so die Botschaft des christlichen Glaubens, lautet: Jeder Mensch ist zur Freiheit berufen und gehört dazu. Freiheit ist vom Standpunkt des christlichen Glaubens aus betrachtet sowohl ein Geschenk Gottes als auch eine Aufgabe für die Gestaltung des Zusammenlebens und eine Hoffnung auf Befreiung. Dieses Versprechen müsste christliche Organisationen dazu motivieren, Beiträge zu einer inklusiven, freien und demokratischen Gesellschaft zu leisten.

Kollegiale Führung ist der Versuch, diesen Sinn und Zweck, selbstbestimmte Teilhabe, in die Praxis, in das alltägliche Handeln der Organisationen zu tragen. Es ist aus meiner Sicht ein Mittel, um die unterschiedlichen Anforderungen und Erwartungen aufzunehmen und organisational abzubilden. Kollegiale Führung ist weder der Gamechanger noch ein Allheilmittel. Sie ist vielmehr ein individueller und organisationaler Weg. Dieser Weg ist ein Lernprozess. Dieser Weg braucht ein Empowerment der Strukturen und der Menschen. Dieser Weg führt in eine neue Arbeits- und Lebenswelt. Es wäre in der Tat ein Wahnsinn, ein solches Teilhabe-Experiment nicht zu wagen, denn die Welt ändert sich.

 
Hintergrundinfo Kollegiale Führung

 

„Kollegiale Führung ist die auf viele Kollegen und Kolleginnen dynamisch und dezentral verteilte Führungsarbeit anstelle zentralisierter Führung durch einige exklusive Führungskräfte.“

(Bernd Oestereich/Claudia Schröder)

Die kollegiale Führung vernetzt die Notwendigkeit von Führungsarbeit mit der Idee der Begrenzung von Macht und achtet dabei auf Kenntnisse und Kompetenzen der Organisationsmitglieder. Jedes Organisationsmitglied kann einzelne Führungsaufgaben übernehmen, zurückgeben oder von einem Kreis entzogen bekommen. Die verteilte Führungsarbeit, die dezentral erfolgt, wird in entsprechenden Führungs-, Rollen- und Praktikergruppen koordiniert. Diese Kreise bilden thematische Verantwortungsbereiche (z.B. Personal, Strategie) und steuern sich ebenso selbstorganisiert wie die wertschöpfenden Teams in der Peripherie der Organisation.

Das neue Führungsparadigma wird anhand der Führungsrichtung sichtbar. In Abgrenzung vom Muster der vertikalen Hierarchie folgt die kollegiale Organisation einer Führung von außen nach innen, also vom Ort der direkten Wertschöpfung ins Zentrum. Die Kreise, die die Dienstleistungen erbringen, sind in der Organisation nicht mehr hierarchisch untergeordnet und mit geringem Machtpotential ausgestattet, sondern Ausgangspunkt der Führung und Ort der Entscheidung. Sie partizipieren über ein Repräsentationsmodell an der Klärung von übergeordneten Entscheidungsnotwendigkeiten.

Auch die Entscheidungspraxis verändert sich: Statt Konsens- oder Mehrheitsentscheidungen werden Entscheidungen mit dem geringsten Widerstand getroffen, Einwände integriert oder Einzelentscheide explizit legitimiert. Die soziokratischen Strukturierungs-, Entscheidungs- und Koordinationswerkzeuge stellen Methoden zur Verfügung, die einen niedrigschwelligen Zugang zu Mitentscheidung und Mitverantwortung ermöglichen.

 
Literaturhinweis:

Oestereich, Bernd/Schröder, Claudia (2017): Das kollegial geführte Unternehmen. Ideen und Praktiken für die agile Organisation von morgen. München.

Oestereich, Bernd/Schröder, Claudia (2020): Agile Organisationsentwicklung. Handbuch zum Aufbau anpassungsfähiger Organisationen. München.

 

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